Rückblick VIA MUNDI Tagung 2008

„Erde im Wandel – Visionen, Hoffnung, Vertrauen“ (30.4. - 4.5.2008 in Bad Alexandersbad)

Erde im Wandel – Visionen, Hoffnung, Vertrauen


Rückblick auf die Via Mundi Tagung 2008 in Bad Alexandersbad, 30.4. – 4.5.2008

Wenn auch für einige das oberfränkische Bad Alexandersbad vielleicht etwas abgelegen war, war es nichtsdestotrotz ein Ort mit einer guten und liebevollen Atmosphäre für eine Tagung, in der – vielleicht mehr als in anderen – das Gefühl der liebevollen Gemeinschaft besonders spürbar war. Dazu trug auch die zuvorkommende Art des Hauspersonals des Evangelischen Bildungszentrums bei. Vor allem aber waren es die Abschiede von Günter Emde und Anneli Gleditsch aus dem Vorstand, die zu Herzen gingen. Beide wurden am letzten Abend geehrt. Günter Emde, der Via Mundi gegründet hat (siehe auch seinen Beitrag zur Geschichte von Via Mundi in den Mitteilungen Nr. 34 oder ==> hier), wurde zudem zum Ehrenvorsitzenden ernannt (siehe unten das Protokoll der Mitgliederversammlung). Die Emotionen wurden besonders stark beim ökumenischen Abschlussgottesdienst. Pfarrer Michael Kuch, der Leiter des Bildungszentrums, war sichtlich erstaunt über den stundenlangen Friedensgruß.

Hier nun, wie immer, ein kurzer Bericht über die einzelnen Vorträge, der mehr dazu gedacht ist, Lust zu machen, sich diese auf CD anzuhören, denn als Zusammenfassung:


Ehrfurcht vor dem Leben – Wandel der Beziehung des Menschen zur Natur

Prof. Dr. Günter Altner
(CD VC-229)

1905 kehrte Dr. phil., theol. et med. Albert Schweitzer (1875 – 1965) dem damaligen angeblichen Humanismus (der dem Großteil der Menschheit die Menschenwürde praktisch aberkannte) den Rücken und wurde in lebendiger Jesus-Jüngerschaft zum Urwald-Doktor. Im Namen Jesu komme „für jeden, der etwas raubt, einer, der etwas bringt; für jeden, der flucht, einer der, segnet“.

1915 erlebte A. S. seine zweite Wende: von der Verantwortung für die Menschen zur Verbundenheit mit allem Lebenden. „Mich trägt ein Impuls, den ich nicht selber erzeugt habe, der mich den Wert meines Lebens und den Wert aller Lebensformen erkennen lässt…. und zum Handeln bewegt.“ Diese mystische Erfahrung des eigenen Lebens als kostbares Geschenk und zugleich jedes Lebens als kostbar und unserer Fürsorge anvertraut bündelt er in dem Satz: „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.“

Die darin enthaltene Erfahrung der Verflochtenheit alles Lebendigen (ja aller Kreatur) hat ihr Gegenstück, ihren Vorläufer, ihre Fortsetzung und ihre Umsetzung.

Das Gegenstück ist die seit Descartes übliche absolute Entgegenstellung von beobachtendem Geist und beobachteter Wirklichkeit (Subjekt – Objekt) und dementsprechend von benützendem Menschen und beherrschter Natur. Vorläufer in Schweitzers Denkweise war Tommasso Campanellas (1568 – 1639) Schau, dass alle Wesen in Anteilnahme am ersten Seienden ihr Sein haben, um ihr Sein wissen und es lieben und in dieser Ähnlichkeit miteinander verknüpft sind – ein verbindendes Netz, in das der Mensch sich bewusst hineingeben kann.

Eine Fortsetzung von Schweitzers Sicht der Verflochtenheit dürfen wir in der Philosophie von Claus Michael Meyer-Abich sehen („Mitwissenschaft“ statt Subjekt– Objekt – Trennung), in der heutigen Wissenschaftstheorie der offenen Systeme und im „Potsdamer Manifest“ (2005), an welcher der Referent mitgearbeitet hat: „Die Einsichten der modernen Physik legen eine Weltdeutung nahe, die grundsätzlich aus dem materialistisch–mechanistischen Weltbild herausführt… Die eigentliche Wirklichkeit der Welt ist ein nicht auftrennbares…. kreatives Beziehungsgefüge…“

Eine Umsetzung des „inmitten von Leben, das leben will“ ins Handeln wurde in ungezählten Bürgerinitiativen gefordert und teilverwirklicht und 1992 in Rio von der UNO als Selbstverpflichtung festgeschrieben und inzwischen von allen Staaten ratifiziert und auch von den Kulturen und Religionen aufgegriffen. „…Achtung gegenüber der Natur… Verantwortung für die größere Gemeinschaft allen Lebens… Einsicht in die Verwandtschaft alles Lebendigen… wenn wir in Ehrfurcht vor dem Geheimnis des Seins, in Dankbarkeit für das Geschenk des Lebens und in Bescheidenheit hinsichtlich des Platzes des Menschen in der Natur leben…“

Weil alles Leben „inmitten von Leben“, also auch in Konkurrenz ist, kommt man ums Abwägen nicht herum; aber dabei muss eben alles Leben mit auf die Waagschale, nicht nur das der Menschen. Nachhaltigkeit für die kommenden Generationen wird heute gefordert, aber immer noch „eingesargt“ (nach Al Gore) in Anthropozentrik. Sensibilität und Einfallsreichtum sind gefragt, damit Marktrationalität und Ökorationalität in Einklang kommen.


Wertschöpfung oder Abschöpfung. Voraussetzungen einer zukunftsfähigen Wirtschaftsordnung

Prof. Dr. Wolfgang Berger
(CD VC-232)

In verständlichen Beispielen und Rechnungen stellte uns der Referent vier Irrwege vor Augen.

1. Wirtschaft ohne Menschlichkeit. Der Neoliberalismus mit seiner dogmatischen Option für Kapital, Markt und Wettbewerb und gegen die Verantwortung des Staates. Gewaltsam durchgesetzt in Chile, Indonesien, Argentinien, Brasilien, Uruguay.

2. Handel ohne Moral. Die Hypothekenbündelung und -„verwertung“ unter zynischer Einberechnung der Scheiternden. Eine Art „Monopoli“ mit Derivaten, die das Zehnfache der realen Güter ausmachen.

3. Reichtum ohne Arbeit. Das Zinseszinsunwesen lässt die Schulden dem realen Wachstum in astronomische Summen davonlaufen. Es gibt 1000 Milliardäre, deren Kapital sich alle zwei Jahre verdoppelt.

4. Genuss ohne Gewissen. Wer gegensteuern will, scheitert am System oder an den Konkurrenten. Die technisch mögliche Wüstenbegrünung unterbleibt, weil die Pflanzen langsamer wachsen als die Zinsen.

Notwendig wäre eine Gebühr auf nicht investiertes Geld, z. B. 10% im Jahr. Das Geld muss fließen; nur so arbeitet es; Spekulation schafft keine Werte. (Heute entfallen bei jedem Kauf durchschnittlich 40% des Preises auf Zinsen.) Eine so orientierte blühende Wirtschaft gab es tausend Jahre lang bei den Sumerern, dreihundert Jahre lang in Europa (1150 – 1450).

Wolfgang Berger war zwanzig Jahre Manager in der chemischen Industrie und in der Datentechnik und neun Jahre Professor für Betriebswirtschaftslehre. Er berät gegenwärtig Unternehmen bei der Kreativitätsförderung und arbeitet in seiner Freizeit für die geschilderte „Fairconomy“. Siehe auch seinen Artikel weiter unten im vorliegenden Mitteilungsheft.


Europa, Asien, Afrika – in uns. Die Krise der europäischen Kultur und die Begegnung mit afroasiatischer Kultur als kreative Entwicklungsaufgabe

Prof. Dr. Heinrich Beck
(CD VC-231)

Die Klarheit des Lehrers und das Feuer des Propheten prägten den Vortrag dieses „Altmeisters“ des interkulturellen Dialogs. Als Kenner der Geschichte und analytisch-intuitiver Betrachter unserer Jahrzehnte skizziert er den europäischen Zugang zu Welt, Mensch und Transzendenz in seinem Wert und in seinen Auswüchsen, die zum Scheitern führen. (Atomtechnik, Gentechnik, Psychotechnik, Sozialtechnik; Klimawandel, Seuchen, Neurosen).

Eine Heilung der unheilbringenden Verabsolutierung des europäischen Begreifens und Beherrschens kann aus der Weckung jener bei uns unterentwickelten Seiten des Menschseins kommen, die in den afrikanischen und asiatischen Kulturen ausgeprägter sind: vernehmen (nicht nur verstehen), mitleben (nicht nur benützen), sich einlassen (nicht nur sich gegenüberstellen), in sich ruhen (nicht nur handeln). Dabei geht es nicht um eine Regression ins Irrationale, Chaotische, sondern um das Neue aus der Integration der beiden Ausprägungen, das vielfach anhebt und das wir erhoffen dürfen aus jenem göttlichen Einströmen, das in der ganzen Evolution am Werk ist. Ihm sollen wir uns anvertrauen und mit unserem Minimum an Einsicht ein Maximum an Einsatz wagen.

Wir gratulieren ihm sehr herzlich zu seinem 80. Geburtstag. Siehe auch unter Vereinsmitteilungen.


Notwendigkeit und Chance – Wandel des naturwissenschaftlichen Weltbildes

Dr. Daniel Dahm
(CD VC-230)

Der Referent ist Kosmopolit, empfangend und beitragend an vielen Punkten der Erde, und nicht nur als Bürger einer vermeintlichen Menschenwelt, sondern als „Faser im Geflecht des Lebens“ (Häuptling Seattle).

Im Hauptteil seines Vortrages stellte er uns die klassische (= in den letzten Jahrhunderten klassisch gewordene) Weltsicht vor Augen in ihrer nur relativen Gültigkeit und in ihrer Untauglichkeit, lebendigen Abläufen, Verflechtungen, Ganzheiten gerecht zu werden. (Die vielen Krisen machen das offenbar.) Im zweiten Teil wies er auf die vielen, vielen Umbrüche im Denken und Handeln hin, die den Paradigmenwechsel bezeugen, der in einer einzigen Generation stattgefunden hat.

Das neuzeitlich-westliche Denken polarisiert, isoliert, reduziert, fixiert, seziert, zentralisiert, systematisiert, kontrolliert. Es hat mehr Nähe zum Substantiv als zum Verbum, mehr zu dem, was existiert, als zu dem, was passiert. Es rechnet mit der linearen Kausalität, nicht mit der vernetzten. Symbol ist für den Referenten das Natural History Museum in London (wo er 2007 arbeitete) mit seinen 70 Millionen isoliert konservierten Lebewesen.

Der ganzen Wirklichkeit (besonders heute und morgen) wird nur ein Denken und Handeln gerecht, in dem auch Intuition (Ahnen, Spüren), Phantasie, Kreativität, Dynamik und Zusammenspiel ihren Platz haben. Der Wandel ist im Gange: „Moos treibt Ritzen in die Mauern des Starren“.

Zeugnisse für den Wandel sind: „Nachhaltigkeit“ und „Fair Trade“ als Inhalt von Werbung – Die Kundgebungen weltweit für Tibet anlässlich des Olympia-Fackel- Laufes – Berichte über Hungersituationen in fernen Ländern als Schlagzeilen (wie früher die Nuklearbedrohung) – Neue Schultypen – www.utopia.de (15.000 Mitglieder) – Die Stiftung für CO2–Kompensation – Vernissagen mit Themen wie Ökologie, Verantwortung, Nord-Süd – Ablösung zentraler durch lokale Steuerungen – Lernen der Völker voneinander. Zeuge und Träger des Wandels ist natürlich auch der Referent selber. Für seine neueste Initiative zur CO2-Reduzierung hat er bereits 20 ehrenamtliche Mitarbeiter aus den verschiedensten Disziplinen.

„Diese Welt ist von Liebe getragen. Dafür müssen wir unsere Sinne schärfen. In diesem Sinne: auf, auf!“


Wie können wir in Zukunft leben?

Gabi Bott
(CD VC-233)

Der Blick auf den blauen Planeten gab Astronauten ein neues Bewusstsein. Uns wird es durch die Übungen der Tiefenökologie angeboten. Die Referentin war Geschäftsführerin bei Bündnis 90/Die Grünen und parallel dazu Yogalehrerin. Ineinanderströmen durften diese parallelen, unverbundenen Weisen des Wahrnehmens und des Wirkens durch die Begegnung mit Joanna Macy (am Tag des Referates war ihr 78. Geburtstag.)

Joanna Macy sammelte und entwickelte Übungen, die Geist und Herz öffnen für die Verbundenheit alles Lebendigen, für den Schmerz über bestehendes und drohendes Unheil und für die Möglichkeit, an der Rettung mitzuwirken. Viele leben und lebten für dieses Anliegen (z.B. im Öko-Dorf Siebenlinden, das auf der Tagung 2006 vorgestellt wurde). Arne Næss hat ihm den Namen „deep ecology“ gegeben.

Einige Elemente der Übungen: Vertraue dem Prozess (Vorgefasstes loslassend) – Liebe die unbeantworteten Fragen – Verdränge nicht – Achte das Andere.

Die Übungen sind möglich im Raum der Gemeinschaft; sie lassen das Wissen in die Herzebene sickern; sie umfassen Trauer und Ekstase, Verzweiflung und Mut, Innerlichkeit und Aktion; sie fördern die Fähigkeit, „Stop“ zu sagen (Symbol Hand), aus der Analyse Alternativen zu entwerfen (Symbol Stirn) und den Standortwechsel im Bewusstsein (Symbol Herz). In einer Übung schauten wir aus dem Jahr 2038 auf die jetzige Wendezeit und erlebten Angst, Vertrauen und Getragensein.

„Ist es nicht schön, in dieser Zeit zu leben!“, jubelte Joanna Macy.


Terra viva – Vision einer zukünftigen Welt

Dr. Günter Emde
(CD VC-234)

20% der Menschen verfügen über 85% der Einkünfte, über 90% des Vermögens.

Die Bürger Deutschlands zahlen täglich 1 Milliarde an die privaten Kapitaleigner. Der Devisenhandel beläuft sich auf ein 20faches der Weltwirtschaftsleistung. Die Börsennachrichten züchten das Streben nach Macht und Geld.

Als Frucht jahrelanger Beschäftigung mit dem Thema legt der Referent die grundlegenden Elemente einer besseren Welt dar. Befreit aus dem Zwang, alle Missstände um der Arbeitsplätze willen in Kauf zu nehmen, kann der Staat selber Arbeitsplätze schaffen, die dem wahren Wohl dienen. Er kann die entsprechenden Unternehmen und Forschungen fördern. Er kann seiner Solidaraufgabe entsprechen. Durch die subfluente Währung werden Kredite billiger, müssen sich Investitionen nicht nach dem Profit richten und können dem Wohl der Bürger dienen. Der Zinsstrom wird umgelenkt zum Staat und zu den Bürgern. In Unabhängigkeit von den Unternehmen kann der Konsum und die Forschung nach ökologischen und humanen Gesichtspunkten gelenkt werden. Wer Missstände meldet, steht unter Rechtsschutz, ja entspricht einer Pflicht.

Die Abgeordneten dienen mit ungeteilter Kraft ihrer Aufgabe und sind keinem Unternehmen verpflichtet. Sie unterliegen keinem Fraktionszwang.

An den Schulen werden die Klassenstärken halbiert und die Lehrkörper verdoppelt. Bildungsziel ist Persönlichkeitsentfaltung, nicht Industrietauglichkeit. Soziale Initiativen und Kultur werden in ausreichendem Maße gefördert.

Wenn die Mächtigen Reformbewegungen weiter unterdrücken, schreitet die Armut weiter fort, als Antwort darauf der Terror, als Antwort darauf die Kontrollen. Racheorgien drohen, sogar ein verzweifelter Krieg der Mächte. Dagegen heißt es: Aufwachen, Aufstehen, Freunde Gewinnen – ohne Zwietracht, ohne Gewalt (vergleiche Indien, Wende in der DDR), auch im „Bekämpften“ ein Kind Gottes sehend. „Uns selbst, unsere Umwelt und die Strukturen dieser Welt zu heilen und zu heiligen… Wenn wir im Bewusstsein unserer Unvollkommenheit und Schwäche trotzdem alle unsere Kraft einsetzen, dann kommt ein Segen dazu, und aus dem Kleinen wird etwas Großes.“ (Albert Schweitzer, dessen Orgelspiel wir abschließend hören durften.)


Wolfgang Habbel